13.06.2013
Pingyao – Datong 6. – 12. Juni 2013
Nachts um 23:00 h verliessen wir Xi’an mit dem Nachtzug Richtung Pingyao. Vor der Abfahrt spitzte ich noch meine Ellbogen, damit ich mich dieses Mal ebenfalls in den Zug drängeln konnte. Meine Mühe war jedoch vergebens, der Zug stand schon früh auf dem Perron zum Einsteigen bereit und die Passagiere kamen tropfenweise. Im Morgengrauen fuhren wir durch die Agglomeration von Pingyao, ein trostloser Anblick. Ausgebeutete Kohlengruben, dem Zerfall überlassene, „verlotterte“Fabriken mit dutzenden von Hochkaminen und Bergarbeitersiedlungen. Die ganze Region von einer Kohlestaubschicht überdeckt. Auch Pingyao machte auf den ersten Blick einen staubigen Eindruck. Aber schon bald, als wir unser Hotel betraten, fühlten wir uns um Jahrhunderte ins alte China zurückversetzt. Im traditionellen, chinesischen Hotel, mit verschiedenen Wohnhöfen, liegt unser Zimmer für einmal nicht in der -zigsten Etage, sondern im Erdgeschoss in einem lauschigen Innenhof.
Nach einer Dusche und einer kleinen Ruhepause, machten wir uns auf den Weg, den kleinen Ort, mit nur 450 000 Einwohnern zu entdecken. Pingyao ist fantastisch. Die Stadt hat die besterhaltene Stadtmauer des Landes. Sie stammt aus dem Jahre 1370, ist 10 m hoch, 6 km lang und völlig intakt. Aus 72 Wachtürmen wurde früher die Umgebung überwacht.
In anderen alten Städten im Reich der Mitte verblassen langsam die Reize aus alter Zeit oder wurden längst Opfer der Kulturrevolutionen. In Pingyao hingegen ist das Meiste erhalten geblieben. Die Stadt bietet alles, was an Vorstellungen über China herumschwirrt. Mit roten Laternen geschmückte Gassen,
elegante Residenzarchitektur, alte Türme und eine ganze Reihe historischer Bauwerke.
Zum Glück ist der Ort vom Erneuerungswahn kommunistischer Städteplaner verschont geblieben. In der Stadt wird noch authentisch gelebt. Die Einheimischen hängen ihre Wäsche im Hof auf, sausen mit ihren Drahteseln durch die Gassen oder sitzen einfach im Hauseingang, um sich zu sonnen oder mit dem Nachbarn zu plaudern.
Pingyao war schon früher eine blühende Handelsstadt. Hier wurden die ersten Banken Chinas gegründet und die ersten Schecks wurden hier eingeführt. Das hatte zur Folge, dass der Transfer grosser Silbermengen von einem Ort zum anderen vereinfacht.
Gemütlich spazierten wir durch die staubigen Gassen und liessen uns in die alte Zeit versetzen. Wir bummelten ein Stück auf der Stadtmauer und schielten von oben in die Innenhöfe.
Wir besuchten den Konfuziustempel, stiegen auf den Stadtturm und sahen uns das Ristenchang-Finanzhaus an.
Dort wurde Ende des 18. Jahrhundert ein Geschäft für Farbstoffe gegründet. Durch den enormen Geschäftserfolg in China verwandelte sich der Betrieb 1823 in die erste Wechselbank Chinas, die schliesslich landesweit 57 Filialen betrieb. Einige hundert Meter von diesem Museum entfernt, liegt der alte Gerichtshof, wo früher Recht oder Unrecht gesprochen, die Leute bestraft oder ins Gefängnis geworfen wurden.
Im ganzen Land trifft man immer wieder auf Fussmassage-Salons. Anscheinend ist es in China üblich, dass man ab und zu zur Fussreflexzonenmassage geht, denn in diesen Studios steht nicht ein Behandlungsbett, sondern gleich mehrere. Hier in Pingyao findet man ein solches Studio in jedem dritten Haus und auf der Strasse wird fleissig geworben. Das Angebot, für 30 Yuan (Fr. 5.–) sich eine Stunde lang die müden Füsse massieren zu lassen, tönte verlockend. Für zwei Personen handelten wir einen Rabatt von 10 Yuan aus. Erst entspannten wir unsere Füsse in einem Kräutersud. Danach überzeugten uns die Masseurinnen, dass wir nicht nur eine Massage, sondern auch eine Pedicure nötig hätten.
Geschäftstüchtig, wie sie waren, empfahlen sie uns noch eine heilende Salbe. Die Nackenmassage lehnten wir dann aber entschieden ab, obwohl sie wahrscheinlich auch gut getan hätte. Die Frauen ergötzten sich ab Armins Haaren an den Beinen, für sie ist das fremd, chinesische Männer haben keine Körperhaare. Meinen Rat, für 100 Yuan sämtliche Körperhaare zu zeigen, lehnte Armin dann doch ab. Nach einer guten Stunde, mit lustigen Diskussionen in Zeichensprache und Gesten, hüpften wir mit gepflegten Füssen wieder davon.
Wahrscheinlich gefiel uns Pingyao so gut, weil wir bei den Sehenswürdigkeiten, gegen Vorweisung unseres Passes, für einmal keine Eintrittsgelder zahlen mussten. Hier waren die Eintritte ab Alter 60 Jahren frei. Auf unserer Reise haben wir mehr Geld für Eintritt gebraucht, als für die Mahlzeiten.
Pingyao und Datong liegen ca. 7 ½ Zugstunden voneinander entfernt. Erst in etwa 2 Jahren wird die neue Highspeed-Strecke betriebsbereit sein. So stiegen wir in Pingyao in den ganz normalen Hartseat-Zug ein, mit dem jeder gewöhnliche „Ottonormalchinese“ reist. Zum Glück hatten wir reservierte Sitzplätze, trotzdem mussten wir erst einen schlafenden Chinesen von unseren Plätzen verjagen. Knapp 10 Haltestellen gibt es auf dieser Strecke. Bei jedem Halt stiegen ca. 75 Leute aus und 100 Personen ein. Wer keinen reservierten Sitzplatz hat, der steht. Da das Drachenbootfest bevor stand, an dem die Chinesen zu ihren Familien fahren, waren sehr viel Studenten unterwegs. Viele von ihnen, aber auch ältere Leute hatten keinen reservierten Sitzplatz. Diese stehen dann stundenlang im Mittelgang des Zuges. Eine Studentin aus Xi‘an und ihr Freund standen mindestens 8 Stunden lang, bis sie an ihrem Heimatort angelangt waren. Wenn dann der Zug so richtig voll ist, zwängt sich noch eine Frau mit einem Früchtewagen, ein Mann, der Mittagessen verkauft, einer der Getränke an den Mann bringen will, oder einer der sonstigen Krimkrams verkauft, durch die Menge. Schliesslich kommt noch die Putzequipe. Der Erste sammelt den Abfall zusammen, der Zweite putzt zwischen den vielen Beinen hindurch, mit einem feuchten Besen den Boden. Keiner meckert oder schimpft. Uns gegenüber sassen eine 19-jährige Medizinstudentin und ein 18-jähriger Highschoolabsolvent. Bald fassten sie den Mut, sammelten ihre ganzen Englischkenntnisse zusammen und schon waren wir wieder in einem, zwar manchmal stockendem, aber doch angeregtem Gespräch verwickelt. Die Fahrt war so spannend und abwechslungsreich, dass wir fast nicht bemerkten, dass die Bahnlinie über einen 1600 m hohen Pass führt.
Nachdem wir in Luoyang, Xi’an und Pingyo einige schöne, sonnige und trockenwarme Tage erleben konnten, regnete es in Datong in Strömen. Datong liegt auf ca. 1100 m über Meer, dem entsprechend war es frisch und wir mussten unsere warmen Jacken aus unseren Koffern ziehen.
Datong liegt im Kohlegürtel im Norden Chinas, an der Bahnstrecke der transmandschurischen Eisenbahn Moskau – Peking. Es ist das Tor zu einigen der wichtigsten Kulturschätzen Chinas: die Ehrfurcht einflössenden Yungang Grotten, das hängende Kloster und die älteste Holzpagode der Welt. Weil sich die Millionenstadt, als ein in Kohlestaub gehülltes Schwergewicht, im hartumkämpften Tourismusmarkt, behaupten muss, hat sich die Stadtregierung in ein kostspieliges Facelifting eingelassen. Ganz China, von Nord bis Süd, ist eine einzige Baustelle. Wohntürme werden abgerissen und wieder aufgebaut, Tausende von Kranen stehen überall, Infrastrukturen, jeglicher Art, werden gebaut, aber was in Datong abgeht, übertrifft alles. Während der Mao-Zeit und noch in den 1980er Jahren wurde die Altstadt niedergewalzt. Es wurden Häuser im sozialistischen Stil (ohne Komfort, ohne Bad/WC) hingestellt. Nun wird wieder alles niedergewalzt und eine neue Altstadt im alten Stil wird auf den Trümmern neu aufgebaut.
Einiges ist schon fertig gestellt, das meiste ist noch im Bau. Von der Moschee stammt nur der grosse Gebetssaal aus alter Zeit, die restliche Anlage wurde authentisch neu gebaut.
Das Regenwetter in Datong war ein kurzes Intermezzo. Schon am nächsten Tag hellte sich der Himmel wieder auf und die Dächer, Bäume und Strassen waren vom Kohlenstaub gereinigt, die Temperaturen waren angenehm warm, nicht zu heiss und die Luft klar und rein. In der Zwischenzeit gesellten sich wieder Lenka und Oliver zu uns. Wegen des Drachenbootfestest haben auch sie drei Tage frei. Zusammen besuchten wir die Yungang Grotten, etwa 20 km ausserhalb Datong. Die Grotten wurden vom Völkerstamm der türkischsprachigen Tuoba aus dem Sandstein gehauen und sind geprägt von indischen, persischen und sogar griechischen Einflüssen, die über die Seidenstrasse nach China kamen. Mit den Arbeiten wurde ca. 460 Jahre n. C. begonnen und es dauerte etwa 60 Jahre, bis die 252 Grotten fertig gebaut waren. Sie sind die älteste Sammlung buddhistischer Steinmetzarbeiten in China.
Am nächsten Tag fuhren wir mit dem Bus zu dem etwa 60 km entfernten Heng Shan. Ein relativ neu erschlossener Berg, mit einer an die Hänge und Felsen geklebten Tempelanlage. Ein erster neuer Tempel liegt gleich beim Parkplatz.
Die Mönche dort winkten uns gleich freundlich hinein und forderten uns auf, Räucherstäbchen anzuzünden, sich vor dem Buddha zu verneigen und eine Opfergabe zu spenden. Als Dank für die Opfergabe schlugen sie dreimal den Gong. Ein Mönch nahm Lenka und Oliver zu sich, ein anderer Armin und mich. Sie gaben jedem einen, mit chinesischen Zeichen bedruckten Zettel in die Hand, worauf wir unseren Namen schreiben mussten. Der Mönch faltete den Zettel kunstvoll zusammen und wir mussten ihn zwischen die Handflächen nehmen. Daraufhin schloss er die Augen und sprach irgendeinen einen „Segen“ aus. Am Schluss des Rituals sagte er zu uns „Money“ und schrieb auf einen Zettel 50! Wir lachten ihn aus und verabschiedeten uns freundlich. Der Mönch bei Lenka und Oliver war nicht so direkt. Er forderte Oliver auf den Zettel ins Portemonnaie zu legen. Wahrscheinlich wollte er schauen, wie gefüllt sein Geldbeutel ist. Oliver steckte den Zettel einfach in die Hosentasche und liess keinen Blick in sein Portemonnaie zu. Selbst im Tempel ist man von Abzockern nicht gefeit.
Ein Katzensprung vom Heng Shan entfernt, ist das hängende Kloster anzutreffen. Das buddhistische Kloster ist gefährlich nahe an den Fels gebaut und wirkt noch überwältigender durch die langen Stützen, auf denen es ruht. Die Tempelhallen passen sich in geschickter Bauweise dem Verlauf des Felshanges an und sind miteinander durch wacklige Laufstege und Gänge verbunden.
Was war wohl der Grund, ein Kloster an einen solch unmöglichen Ort zu bauen? Ich jedenfalls bekam dort oben Herzrasen und war froh wieder festen Boden unter den Füssen zu haben.
Zu viert bestiegen wir in Datong den Bus, um nach Beijing zu fahren. Bei schönstem Wetter fuhren wir über ein eindrucksvolles Hochplateau, mit vielen Naturschönheiten, bevor wir in den Beijinger Smog eintauchten.
8 Wochen sind wir nun durch China gereist und haben vieles gesehen und erlebt. Tausende von Eindrücken prasselten täglich auf uns nieder. China ist ein Land mit vielen Kontrasten und Widersprüchen. Es gibt die vielen grossen Städte mit tausenden von anonymen Wohntürmen, dann das Land mit den bescheidenen Häusern. Dazwischen gibt es nichts, keine Agglomeration mit schmucken Häusern und gepflegten Vorgärten. Es soll so etwas geben, diese Quartiere sieht man aber nicht, sie sind den Superreichen vorbehalten. In den Städten sind die prunkvoll beleuchteten Geschäfte der bekannten teuren Labels des Westens, einige hundert Meter davon entfernt schneidet der Coiffeur seinen Kunden die Haare auf der Strasse, weil es in seinem Lokal kein elektrisches Licht gibt. In den Städten sind die grossen Baumaschinen am Werk, auf dem Land tragen die Frauen die Bausteine in Körben am Rücken auf provisorischen Holztreppen hinauf und den Bauschutt hinunter. Überall wird noch viel Handarbeit geleistet, sei es auf den Feldern oder in der Stadt.
Die Felder werden von Hand gehackt und gejätet, die Strassen werden von Strassenkehrern gewischt. Kaum zu glauben, was einmal mit all diesen Menschen passieren wird, wenn Arbeitsabläufe rationalisiert und Maschinen eingesetzt werden. An den Vorzeigeorten wird fast mit der Zahnbürste gewischt und geputzt, dort wo es kein Geld bringt, lässt man allen Unrat liegen. Wir fuhren an kilometerlangen Windkraftwerken und immensen Solaranlagen, aber auch an unzähligen Kohlekraftwerken, teils in den Wohnquartieren, zwischen den Wohntürmen vorbei. Die Chinesen belächeln die Europäer, die „Langnasen mit den Kartoffelaugen“, streben aber nach Armani, Prada, „Lolex“ und Omega. Man rühmt sich damit, dass man in China etwas entscheidet und das auch sofort durchsetzt, wobei bei uns über alles immer abgestimmt wird. Sie machen sich lustig über die Amerikaner, trinkt aber den Kaffe bei Starbucks und issen den Burger bei Mc Donalds. Stolz fährt die Oberschicht mit den grossen Karossen des Westens durch die überfüllten Strassen. Kleinwagen sind selten zu sehen. In diesem ehemals kommunistischen, sozialistischen Staat herrscht ein Kapitalismus der übelsten Sorte. Jeder will heute sein Geld machen, morgen könnte es vielleicht zu spät sein. Was bei den „Bodenspuckern mit den Dollaraugen und Schlitzohren“ kein Geld bringt, wird nicht gemacht. So rüpelhaft die Leute auf der Strasse sein können, so freundlich und hilfsbereit sind sie auch. Trotz Sprachbarrieren wurde uns immer gerne geholfen, sei es auf der Strasse oder dem Bahnhof. Besonders junge Leute fragten uns immer wieder neugierig, woher wir kommen und wohin wir gehen. Häufig wurde uns freundlich zugelächelt, dass wir Touristen sind, war ja nicht zu übersehen. Auf der ganzen Reise wurden wir immer wieder gefragt, ob sie Fotos von uns und mit uns machen dürfen. Oft merkten wir es gar nicht, dass wir wieder in einer Digitalkamera gelandet sind. Man merkt auch, die jungen Leute wollen vorwärtskommen und sind voll Mut und Elan. Der jung Heugümper in Tunxi ist voll überzogen, im Jahr 2020 wird China wirtschaftlich so weit wie Amerika sein.
Das Essen haben wir von Südchina bis in den Norden immer wieder genossen, einzig in der Provinz Sichuan war es eine Spur zu scharf. Grosse Magen- oder Bauchleiden gab es keine. Der Tee gehört zum Chinesen, wie der Rotwein zum Franzosen. Es gibt keinen Chinesen, der nicht seine Teeflasche dabei hätte.
In den Zügen gibt es immer heisses Wasser, damit man sich seinen Tee aufgiessen kann. Obwohl wir sehr wenige übergewichtige Chinesen sahen und die Frauen mit ihren schlanken Figuren wie Püppchen aussehen, hatten wirdas Gefühl, es werde von morgens bis abends gegessen. In den Strassen und Gassen, überall wird immer gekocht und gebraten. Manchmal wurden unsere Magensäfte durch die Düfte angeregt, oft verdarben sie unseren Appetit.
Die Reise war spannend, interessant und lehrreich. Wir werden viel Positives mit nach Hause nehmen, sind aber auch dankbar in der noch sauberen Schweiz wohnen zu dürfen. Viele haben das Gefühl in der Schweiz gäbe es zu viele Leute, in China gibt es noch viel mehr und das Gedränge ist noch viel grösser.
Nun sind wir auf unsere Erlebnisse während den nächsten 10 Tagen in Beijing gespannt.